Literaturnachweis: Gielen, S., Wienbergen, H., Reibis, R. et al.
Kommentar zu den neuen Leitlinien (2021) der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) zur kardiovaskulären Prävention
Kardiologie 2022 · 16:439–454. https://doi.org/10.1007/s12181-022-00580-2
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Autoren
Stephan Gielen · Harm Wienbergen · Rona Reibis · Wolfgang Koenig · Joachim Weil · Ulf Landmesser*
*Für die Kommission für Klinische Kardiovaskuläre Medizin der DGK
Zusammenfassung
Die bedeutendste Veränderung in den neuen ESC-Leitlinien zur kardiovaskulären Prävention von 2021 betrifft die Risikoevaluation gesunder Menschen: Durch die Einführung von SCORE2 wird eine neue epidemiologische Studienbasis für die Risikoeinschätzung eingeführt, die erstmals die Berechnung der kardiovaskulären Erkrankungswahrscheinlichkeit und der kardiovaskulären Mortalität erlaubt. Zudem ermöglicht SCORE2 OP nun auch eine zuverlässige Risikobestimmung bei Menschen oberhalb des 65. Lebensjahres bis in die 9. Lebensdekade. Die Altersdynamisierung der Risikoschwellen für hohes und sehr hohes kardiovaskuläres Risiko trägt dem Gedanken der Lebenszeitexposition Rechnung, führt aber evtl. zu einer höheren Zahl behandlungspflichtiger Patienten. Mit dem 2-Step-Approach empfiehlt die ESC eine pragmatische Herangehensweise an die Risikofaktoreinstellung: Während in Step 1 basale Präventionsziele für alle Patienten vorgegeben werden, soll der Arzt im Gespräch mit dem Patienten in Abhängigkeit von 10-Jahres-Risiko, Lebenszeitnutzen, Begleiterkrankungen und Patientenwunsch die optimalen Präventionsziele besprechen und anschließend anstreben. Leider werden in den Leitlinien die Kriterien, wer für die optimalen Präventionsziele geeignet ist, nicht klar definiert. Damit besteht die Gefahr einer subjektiven Fehleinschätzung seitens der behandelnden Ärzte, die möglicherweise vielen Patienten den Nutzen einer optimalen kardiovaskulären Prävention vorenthält. Der von den Autoren der Leitlinie hervorgehobene Gedanke des „Freedom of Choice“ könnte insofern zum Bumerang werden und zur Verwässerung der Implementierung einer optimalen Prävention führen. Hierzu und zu möglichen Verschiebungen beim Anteil behandlungsbedürftiger Patienten in der Primär- und Sekundärprävention sind in den nächsten Jahren Längsschnittstudien erforderlich, um Umsetzungsqualität und Prognosewirksamkeit zu objektivieren.